Die grauen Männer

Die grauen Männer

Sie wünschte, sie hätte Momo zur Hand. Wie einen Talisman.
Gegen die grauen Männer.

Im Flugzeug sitzend, umzingelt von ihnen, ist sie mittendrin.
Nur der Rauch fehlt.
Jedenfalls der, den man sehen kann.
Aber riechen kann sie ihn.
Kalt, trocken.
Wie Asche auf vergessenen Blumen, wie ausgebrannte Zeit.

Schon als Kind hielt sie das Buch in ihren kleinen Händen,
verschlang Zeile um Zeile,
wie ein Schnellzug, der Strommasten verschlingt.
Und tief in sich wusste sie, worum es ging.
Spürte das Eis auf ihrem Rücken, wenn die grauen Männer auftauchten.
Zeit stehlend.
Leben saugend.

Nun sitzt sie zwischen ihnen.
Anzüge, die mehr oder minder passen.
Rollkoffer.
Bücher, geringelt geheftet, gefüllt mit bunten Kurven und Prognosen,
die sie festhalten, als wäre darin die ganze Wahrheit des Lebens verborgen.

Was treibt sie an?
Ist es Sicherheit in Zahlen?
Sicherheit, an die sie ihre grauen Hände krallen,
die Finger umschlungen von einschneidenden Eheringen?

Sie war selbst einmal kurz eine von ihnen.
Verkleidet, schlecht.
Es hieß, dass Kinder so enden, wenn sie erwachsen werden.
Und sie hat es fast geglaubt.

Schließlich waren sie überall.
Im Fernsehen.
Vor ihrer Schulbank.
In Magazinen.

„Das Leben ist kein Ponyhof“, sagten sie.
Und dass man nicht alles in Schwarz und Weiß sehen sollte.
Dass Erwachsenwerden bedeutet,
dass im Regen tanzen, lange wach bleiben,
den Sonnenaufgang ansehen,
wilde Roadtrips machen
eigentlich nur eine lächerliche Phase ist,
auf dem Weg zu Ernst.
Und Verantwortung.
Und – na ja – Grauheit.

Man erklärte ihr, dass das Leben nicht leicht sei.
Dass es verpflichtet.
Einengt.
Doch sie wollte es ja richtig machen.
Das Leben.

Also hat sie es versucht.
Integration nennt man das.

Wie ein Kind, das auf die Schultern eines anderen steigt,
sich einen langen Mantel überstreift,
mit Hut und großer Sonnenbrille,
eine Illusion von Größe schaffend,
auf wackeligen Beinen stehend.

So hat sie sich immer gefühlt.
Wie eine Fälschung.
Eine Betrügerin.
In Angst lebend,
dass man ihr auf die Schliche kommt,
den Mantel wegreißt,
den Hut lüftet.

Fühlen die grauen Männer und Frauen sich auch so?
Oder vergessen sie,
irgendwann,
das Gewicht ihrer Mäntel?

Und wenn man sie dann fragt,
ob das wirklich ihr Leben ist –
werden sie dann böse?
Knurrend, zynisch lachend,
wenn jemand von Träumen erzählt,
von Liebe,
vom Fliegen?

Weil sie sich erinnern?
Daran, dass sie sich verstecken?
Dass die Schuhe des oben Stehenden auf ihren Schultern drücken?
Dass ihre Augen,
hinter der großen Sonnenbrille,
schon so lange
kein
gleißend
helles
Licht
mehr gesehen haben?

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *